Dienstag, 21. Juni 2011

Die Mär vom unbezahlbaren Ausstieg

Die Mär vom unbezahlbaren Ausstieg
Der Super-GAU in Fukushima hat die Energiefrage schlagartig ins Zentrum öffentlicher Aufmerksam-keit katapultiert. Doch nach der reflexartigen Ankündigung des Atommoratoriums werden Bedenken  laut, die Stromversorgung würde ohne Atomkraftwerke unbezahlbar, klimaschädlich und unsicher werden. Die Energiedepesche analysiert die häufigsten Ausreden der Ausstiegs-Skeptiker.

Verbraucher als Geisel

Beim Geld hört der Spaß auf. Mit Schreckenszahlen von einem unausweichlichen
Strompreisanstieg versuchen die Atomkonzerne, die Verbraucher
für die Atomkraft zu instrumentalisieren. Es tobt eine öffentliche
Faktenschlacht, in der Zahlen wild durcheinander geworfen werden:
Strompreise, Investitionen in Kraftwerke und Leitungen, Umlagen für Erneuerbare.
Doch die Strompreise für Verbraucher müssen durch die Stilllegung
von Atomkraftwerken nicht zwingend steigen. Denn die Atomkonzerne
haben ihre günstigen Erzeugungskosten für Atomstrom als satte
Gewinne eingestrichen und ihren Preisvorteil de facto nie an die Verbraucher
weitergegeben. Die Gewinne der drei Atomkonzerne sind von 5,7
Milliarden im Jahr 2002 auf über 23 Milliarden Euro 2009 gestiegen.

Was der Ausstieg kosten darf

60 Prozent der Deutschen würden für einen Ausstieg aus der Kernenergie
monatlich bis zu zehn Euro zahlen, ergab eine Umfrage für den „Stern“.
20 Prozent würden bis zu 30 Euro, sechs Prozent bis zu 50 Euro mehr
für Strom zahlen. Ein Prozent nähme sogar Mehrkosten bis zu 100 Euro
in Kauf.

Branchenverband für Ausstieg

Selbst die Branche empfiehlt den Ausstieg: Der Bundesverband der Deutschen
Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) empfiehlt, möglichst bis 2020
und spätestens entsprechend dem rot-grünen Ausstiegsbeschluss 2022 bis
2023 den letzten der 17 deutschen Kernreaktoren vom Netz zu nehmen. Das
hat der Branchenverband auf einer außerordentlichen Sitzung entschieden.
Der Dachverband BDEW umfasst alle Versorgungsunternehmen, darunter
Stadtwerke und Regionalversorger, aber auch Atomkonzerne. Bei dem Anti-
Atom-Beschluss setzten sich die Stadtwerke, Regionalversorger und Gaslieferanten
im Verband gegen die Kernkraftlobby durch. E.on und RWE tragen
den Beschluss nicht mit und halten die Festlegung für einen Fehler.

30.000 Megawatt neue Kraftwerke bis 2019
Laut Branchenverband wollen die Energieunternehmen bis 2019 insgesamt
51 neue Kraftwerke bauen oder bestehende Anlagen erweitern, davon 14
große Regenerativanlagen. 18 der neuen Kraftwerke sind bereits im Bau.
Für 13 weitere Projekte liegen Genehmigungen vor, darunter allein zehn
große Windparks. Zu den 51 konkreten Projekten kommen 15 weitere hinzu,
für deren Inbetriebnahme noch kein Termin feststeht.

Gibt es eine Stromlücke?

Unterdessen warnen die Atomkonzerne und einige mit ihnen verbundene
Institute und Gutachter vor dem Abschalten der sieben ältesten und weiterer
Atomkraftwerke. Sie zeichnen ein Schreckensszenario, nach dem
Deutschland Strom aus anderen Ländern importieren muss, Blackouts von
mehreren Tagen drohen und die Verbraucher zudem höhere Strompreise
berappen müssen.
Der Monitoringbericht der Bundesregierung rechnet damit, dass bis
2015 einer gesicherten Kraftwerksleistung von 117 Gigawatt eine Last von
77 Gigawatt gegenübersteht. Die Abschaltung von sieben Gigawatt Atomkraftwerksleistung
fällt dabei nicht ins Gewicht.
Studien des Öko-Instituts und von Prognos bestätigen, dass Atomkraftwerke
verzichtbar sind. Zu dem gleichen Schluss kommen Untersuchungen
des Umweltbundesamtes sowie der Grünen Bundestagsfraktion, die
auf einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Solare Energieversorgungstechnik
(ISET) in Kassel basiert.
Eine aktuelle Studie des Zentrums für Sonnenenergie- und Wasserstoff-
Forschung Baden-Württemberg (ZSW) in Stuttgart zeigt, wie der Abschied
von den Atomkraftwerken gelingt: Deutschland könnte Kernkraft bis 2020
durch Ökostrom ersetzen und die Stromversorgung vor 2050 voll auf erneuerbare
Energien umstellen. Der Anteil der Kernkraft könnte bis 2020
auf null reduziert werden, zwei Jahre schneller als nach dem rot-grünen
Atomkonsens. Das Öko-Institut schätzt, dass neben den sieben ältesten und
bereits abgeschalteten Meilern zwei weitere Blöcke dank der sogenannten
Kaltreserven im deutschen Stromversorgungssystem ebenfalls sehr kurzfristig
vom Netz gehen können. Vier weitere Blöcke ließen sich bis 2013
stilllegen – in Kombination mit sogenannten Lastmanagement-Maßnahmen
sowie der Inbetriebnahme der Kraftwerke, die bis 2013 ans Netz gehen.
Laut einem Bericht der „Frankfurter Rundschau“ haben E.on, RWE und
EnBW in Deutschland sechs Gas- und Kohlekraftwerksblöcke mit zusammen
1.700 Megawatt in Kaltreserve. Ein weiterer 300 Megawatt starker
Steinkohleblock sei aus wirtschaftlichen Gründen ausgeschaltet, hieß es.
Die Kraftwerke könnten ohne große Investitionen reaktiviert werden. Dass
das nicht passiere, zeige, dass die Betreiber selbst trotz ihrer Warnungen
vor Versorgungsengpässen nicht mit dauerhafter Stromknappheit rechneten,
so der Bericht.                      

AKWs einfach wegsparen

Doch schon allein durch Energiesparen kann Deutschland binnen weniger
Jahre auf alle Kernkraftwerke verzichten. Zu diesem Schluss kommt eine
Studie des Wuppertal-Instituts und des Unternehmensnetzwerks Deneff
aus Firmen der Energieeffizienzbranche. Auch Matthias Kurth, der Präsident
der Bonner Bundesnetzagentur, sieht die Stabilität der Stromnetze
durch das Atommoratorium nicht gefährdet. Er warnt vor einer Panikmache.
Die Debatte um einen Blackout sei oft „oberflächlich, interessengeleitet
und nicht hilfreich“, so Kurth wörtlich.
Sowohl technisch als auch rechtlich gebe es viele Möglichkeiten, Kraftwerke
so zu steuern, dass sie einen Stromausfall verhindern können, so
Kurth. Die Effekte des Moratoriums auf die Netze seien beherrschbar. Man
müsse Revisionen verschieben und den Bau moderner Kraftwerke, vor allem
von Gaskraftwerken, beschleunigen. Die Auswirkungen auf den Strompreis
seien zurzeit nicht dramatisch.

Klimaneutraler Ausstieg

Selbst das Klima muss nicht unter dem schnellen Atomausstieg leiden,
betont Jochen Flasbarth, der Präsident des Umweltbundesamts (UBA). Zwar
werde derzeit mit dem Atommoratorium in Deutschland etwas mehr Kohle
verbrannt, das ändere aber nichts an der europaweit festgelegten CO2-
Obergrenze, sagte Flasbarth der „Financial Times Deutschland“. Danach
gleiche der Emissionshandel die zusätzlichen Emissionen aus deutschen
Kohlekraftwerken automatisch an anderer Stelle aus. Ab 2017 könne
Deutschland auf Kernkraft verzichten, ohne die Versorgungssicherheit zu
gefährden. Bis dahin seien die nötigen Kohle- und Gaskraftwerke gebaut.
Weitere Kohlekraftwerke seien nicht notwendig, so das UBA. Sie seien
zwar effizienter als alte, produzierten aber immer noch zu viel CO2 und
würden damit zur politischen Last. Besser wäre es, alte und gegen Feinstaub-
Ausstoß aufgerüstete Kohlekraftwerke einige Jahre länger und stärker
laufen zu lassen.

Volkszorn gegen Atom

Unterdessen richtet sich der Volkszorn gegen die Atomkraftbetreiber. So
demonstrierten mehr als 120.000 Menschen in den vergangenen Monaten
erneut gegen Atomenergie. An zwölf Atomanlagen machten Tausende
Bürger klar, dass sie die überall im Land lauernde Gefahr nicht länger
hinnehmen wollen. Die Innenstadt von Biblis musste wegen Überfüllung
gesperrt werden. Die Organisatoren der Massendemos leiteten zahlreiche
Demonstranten auf andere Flächen um. An vielen Standorten fanden in
den vergangenen Monaten die größten Demonstrationen seit Jahrzehnten
oder überhaupt statt.

Quellen/Literatur                Monitoringbericht der Bundesregierung:
http://tinyurl.com/monitoringbericht
Studien des Öko-Instituts und Prognos:
http://tinyurl.com/wwfstudie
Studie des Umweltbundesamtes:
http://www.uba.de/uba-info-medien/3997.html
Studie der Grünen Bundestagsfraktion:
http://tinyurl.com/studie-zukunftsstrom

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen